Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe verblüfft mit Fake-Chronologie
Wurde das Archiv von linksunten.indymedia erst am 01.02.2020 veröffentlicht?
Am Dienstag überraschte die Staatsanwaltschaft Karlsruhe die anderen Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit in dem Prozeß gegen den Journalisten von Radio Dreyeckland (RDL), Fabian Kieniert, mit der These, das Archiv von linksunten.indymedia, einer linken Webseite, sei erst am 01.02.2020 – und nicht schon am 16.01.2020 – veröffentlicht worden. Warum könnte der Unterschied von gut zwei Wochen wichtig sein?
Fabian Kienert soll einen verbotenen angeblichen „Verein“ unterstützt haben. Dies soll er dadurch getan haben, daß er im Sommer 2022 das Archiv der Webseite des – angeblich unterstützten – 2017 verbotenen „Vereins“ in einem Artikel auf der Webseite des Freiburger Hörfunksenders RDL verlinkte. Der BetreiberInnenkreis der Webseite war 2017 unter der unzutreffenden Bezeichnung „Verein ‚linksunten.indymedia‘“ verboten worden. In Wirklichkeit hieß der BetreiberInnenkreis „IMC Linksunten“. Auch, daß der BetreiberInnenkreis vereinsförmig organisiert war, kann – auch bei Kenntnis des § 2 Vereinsgesetz, mit seinem weiten Vereins-Begriff1, bezweifelt – werden).
Eine der in dem Verfahren gegen Kienert juristisch entscheidenden Fragen ist nun: Existierte der „Verein“ im Sommer 2022 als der Radio-Journalist seinen Artikel veröffentlichte, überhaupt noch? Dies ist deshalb wichtig, weil nur existierende Vereine unterstützt werden können.2
Die Veröffentlichung des Archivs der Webseite Anfang 2020 könnte dafür sprechen, daß der „Verein“ zumindest damals noch existierte – dies dann, wenn der Verein (und nicht irgendwelche anderen Leute oder eine Einzelperson) das Archiv veröffentlicht hat. Welche Person/en das Archiv tatsächlich veröffentlicht hat/ben, ist der Öffentlichkeit und auch der Staatsanwaltschaft Karlsruhe unbekannt. Die Staatsanwaltschaft scheint nun der Ansicht zu sein, daß ein Archiv-Veröffentlichungsdatum „01.02.2020“ eher dafür spricht, daß es der alte BetreiberInnenkreis war, als ein Archiv-Veröffentlichungsdatum „16.01.2020“. Zumindest mit dieser These hat die Staatsanwaltschaft durchaus nicht Unrecht – warum, wird am Ende dieses Artikels erklärt.
Der Pferdefuß an der staatsanwaltschaftlichen These
Trotzdem hat die These der Staatsanwaltschaft, daß das linksunten-Archiv erst am 01.02.2020 veröffentlicht worden sei, einen Pferdefuß: Schon vor dem 30.01.2020 – also auch vor dem 01.02.2020 (zwischen beiden Daten lag noch der 31.01.2020) – berichteten mindestens vier Medien über das Archiv:
„Seit dem 16. Januar ist ein Archiv der verbotenen Seite ‚linksunten.indymedia‘ wieder auf mehreren Seiten im Netz einsehbar. Ob die erneute Abrufbarkeit des ‚linksunten‘-Archivs auch unter das Verbot von 2017 fällt, ist unklar.“
(https://www.tagesschau.de/inland/indymedia-verbot-101.html)
„Schon vor einer Woche wurde das Archiv von Indymedia Linksunten von Unbekannten wieder online gestellt. Die Anwälte der Kläger sprechen von einem Glücksfall für das Verfahren. Denn dadurch könnte nun bewiesen werden, dass sich die überwiegende Mehrheit der Beiträge nicht um militante, sondern um legale Aktionen dreht. Es sind relativ wenige und auch die werden durch andere Nutzer der Plattform inhaltlich kritisiert. Die Bloggerin Detlef Georgia Schulze hat jetzt das Archiv gespiegelt und namentlich mit einem eigenen Impressum gezeichnet.“
(https://www.telepolis.de/features/Tag-i-in-Leipzig-4646008.html)
„Wenige Tage vor der Verhandlung am Bundesverwaltungsgericht [über das linksunten-Verbot, die am 29.01.2020 stattfand] ist ein Archiv der Webseite online gestellt worden.“
(https://www.golem.de/news/bundesverwaltungsgericht-linksunten-bleibt-verboten-2001-146339.html)
„Die Texte von linksunten sind seit ein paar Wochen, trotz Verbot, wieder verfügbar. Auf mehreren Websites wurde ein fast hundert Gigabyte umfassendes Archiv hochgeladen. Es wird in komprimierter Form auch zum Download angeboten. Linke Gruppen feiern das als Erfolg – ein großer Teil der Geschichte ihrer Bewegung sei damit wieder abrufbar.“
Wie gelangte die tagesschau zu ihrer These, daß das Archiv bereits am 16.01.2020 veröffentlicht wurde?
Wie kam die tagesschau nun aber auf das Archiv-Veröffentlichungs-Datum „16. Januar“? Zu vermuten steht: Wegen eines Artikels, der an diesem Tag bei de.indymedia.org erschienen war. (de.indymedia ist eine weitere – chronologisch betrachtet: die erste – deutsche Subdomain der Domain indymedia.org; und indymedia.org ist wiederum eine Startseite, von der aus zahlreiche Nachrichten- und Diskussionsseiten der internationalen Bewegungs-Linken erreicht werden können; vgl. Telepolis vom 27.11.2019.) In dem besagten Artikel vom 16.01.2020 heißt es nun unter anderem:
„Wir haben heute das vollständige Archiv von linksunten.indymedia.org unter der Adresse https://linksunten.archive.indymedia.org/ veröffentlicht. Aus dem Tor-Netzwerk erreicht ihr das Archiv direkt über folgende Onion-Adresse: http://xrlvebokxn22g6x5gmq3cp7rsv3ar5zpirzyqlc4kshwpfnpl2zucdqd.onion/“
Vorderhand spricht alles dafür, daß diese Behauptung wahr war und ist. Denn: Was soll das Motiv gewesen sein, eine solche Behauptung aufzustellen, wenn sie nicht wahr wäre? Und warum sollten die tagesschau, golem, Telepolis und Die Zeit eine solche vermeintliche Ente einfach abschreiben?
Meine Spiegelung des Archivs – auch schon vor dem 1. Februar 2020
Ich kann auch selbst bestätigen, daß das linksunten-Archiv schon vor dem 01.02.2020 – und sogar vor dem 26.01.2020, dem Tag, an dem der erstgenannte Telepolis-Artikel erschien, online war. Denn es war ja meine Archiv-Spiegelung, die in dem Artikel erwähnt war; und daß ich meine Spiegelung vor dem 26.01.2020 vornahm, kann ich auch beweisen:
Bereits am 20.01.2020 bestätigte der Hoster OVH die Bestellung der Adresse links-wieder-oben-auf.net, unter der ich meine Archiv-Spiegelung einrichtete:
Schaubild 1: 20.01.2020: Die Firma OVH bestätigte mir die Bestellung der Internet-Adresse
Ebenfalls am 20.01.2020 schickte mir OVH die Rechnung für den mit der bestellten Adresse verbundenen Webspace:
Schaubild 2: Ebenfalls am 20.01.2020: OVH schickte mir den Link zur Rechnung für den Webspace, den ich für meine Archiv-Spiegelung nutzte
Ende Januar 2020 kaufte ich mir außerdem eine externe Festplatte der Firma Toshiba, und spätestens3 am 21. und 22.01.2020 lud ich die Daten vom linksunten-Archiv, das unter der Adresse https://linksunten.archive.indymedia.org/ veröffentlicht worden war, auf meine neu erworbene Festplatte herunter:
Schaubild 3: 21. und 22.01.2020: Spätestens an diesen beiden Tagen speicherte ich die .zip-Dateien des linksunten-Archivs auf meiner damals gekauften externen Toshiba-Festplatte
Falls die gezeigten screen shots nicht ausreichten sollte, könnte ich (falls ich dies nicht schon vor drei Wochen beiläufig erwähnt hatte) in einer offiziellen Aussage ergänzen: Ich tat dies (das Entpacken und Hochladen) schon vor dem 01.02.2020 und sogar schon vor der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht über das linksunten-Verbot, die am 29.01.2020 stattfand.
Bereits am 26.01.2020 erschien der oben zitierte Telepolis-Artikel, der unter anderem über meine Archiv-Spiegelung berichtete.
Am 28.01.2020 informierte ich außerdem die Medienanstalt Berlin-Brandenburg – in Form eines Offenen Brief über meine Spiegelung:
Schaubild 4: 28.01.2020: Ich informierte die Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg über meine Spiegelung des linksunten-Archivs
Schaubild 5: Seite 3 eines Offenen Briefes, den ich am 28.01.2020 an die Medienanstalt Berlin-Brandenburg sandte (ob meine Halbsatz, „nur standen mir die Daten bisher nicht zur Verfügung“, vielleicht gelogen war, sei offen gelassen).
Ebenfalls am 28.01.2020 schickte ich meinen vorgenannten Offenen Brief an „trend.online“:
Schaubild 6: Ebenfalls am 28.01.2020: Ich schickte meinen Brief – zwecks Veröffentlichung – an „trend. onlinezeitung“
Diese veröffentlichte den Offenen Brief in ihrer Ausgabe 2/2020 – versehen mit dem Vermerk, den Offenen Brief am 28.01.2020 erhalten zu haben:
Schaubild 7: Feb. 2020: Mit dem Vermerk „Zugestellt am 28.1.2020“ erscheint mein Offener Brief an die MABB in „trend. onlinezeitung“
Ein mögliches Motiv für die staatsanwaltliche Fehldatierung der Veröffentlichung des linksunten-Archivs
Warum mag die Staatsanwaltschaft Karlsruhe nun – trotz dieser eindeutigen Sachlage – die Behauptung von einer Archivveröffentlichung erst am 01.02.2020 aufgestellt haben?
Selbstverständlich fragte ich zunächst einmal die Staatsanwaltschaft selbst – und zwar schon am Dienstag um 14:55 Uhr (ich war zwar am Dienstag bei der mündlichen Verhandlung, aber nicht früh genug, um bereits den Beweisantrag mitzubekommen, in dessen Rahmen es um das Datum der Archivveröffentlichung ging):
„Den Ausführungen des Vorsitzenden Richters nach der Beratungspause entnahm ich, daß die StA nunmehr die These vertrete, daß das linksunten-Archiv erst am 1. Feb. 2020 veröffentlicht worden sei.
a) Ist dies tatsächlich die Auffassung der Staatsanwaltschaft?
b) Welche Schlußfolgerung knüpft die StA an ihre Auffassung von der Chronologie der Ereignisse?“
Heute bekam ich zwar eine Antwort auf meine mail von Dienstag – aber nicht zu diesen beiden Fragen…
Also bleibt mir nichts anderes als eine Vermutung aufzustellen – ich vermute: Weil eine Archiv-Veröffentlichung bereits am 16.01.2020 jedenfalls dagegen spricht, daß die Archiv-Veröffentlichung durch die Leute erfolgte,
die der Staat für Mitglieder des alten BetreiberInnenkreis hält,
denen er 2017 die linksunten-Verbotsverfügung in die Hände drücken ließ
und
die gegen dieses Verbot erfolglos vor dem Bundesverwaltungsgericht klagten (weil sie es individuell und nicht als der verbotene „Verein“ kollektiv machten).
Es wäre geradezu widersinnig, erst rund 2 ½ Jahre (vom Verbot im August 2017 bis zur Archiv-Veröffentlichung im Januar 2020) stillzuhalten und dann unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung des Gerichts über die eigene Klage die Gerichtsentscheidung nicht weiter abzuwarten, sondern nun auf eigene Faust zu handeln (und damit – im Falle des Erwischtwerdens – eine Strafe in Kauf zu nehmen).
Selbst wenn gesagt würde, die fünf damaligen KlägerInnen seien um die Jahreswende 2019/2020 zur Überzeugung der Aussichtslosigkeit ihres juristischen Vergehens gelangt, würde sich die Frage stellen, warum sie dann nicht konsequenterweise – kostenreduzierend – ihre Klagen zurückgezogen haben, sondern nach dem Mißerfolg vor dem Bundesverwaltungsgericht auch noch Verfassungsbeschwerde erhoben, und damit weitere Honorarrechnungen ihrer AnwältInnen provozierten. –
Welche Leute könnten dann das Archiv veröffentlicht haben – wenn nicht diejenigen, die der Staat verdächtigt?
Zum einen Leute, die vielleicht die defensive, wortkarge Reaktion des alten BetreiberInnenkreises von linksunten.indymedia auf das Verbot nicht richtig fanden – und vielleicht deshalb ein etwas kämpferisches Zeichen im Vorfeld der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht setzten.
Altes (und Neues?) aus der Muppetshow
Zum anderen kann es aber der Staat gewesen sein, der vielleicht einen honeypot schaffen wollte, um die IP-Adressen von Leuten zu sammeln, die sich für die alten linksunten-Artikel interessieren. – Aber diese Möglichkeit halte ich für die weniger wahrscheinliche; aber das Landgericht müßte diese Möglichkeit ausschließen, wenn es zur Überzeugung gelangen sollte, daß der verbotene „Verein“ 2017 noch existierte.
Um diese Möglichkeit ausschließen zu können, müßte erst einmal in den Reihen des Verfassungsschutzes und des Bundeskriminalamtes ermittelt werden.
An den Haaren herbeigezogen ist diese Möglichkeit jedenfalls nicht: Etwas ähnliches kam schon vor rund 20 Jahren im Ermittlungsverfahren gegen die militante gruppe (mg) zum Einsatz:
„seit 2004 [wurden] Webseiten des deutschen Bundeskriminalamts als Honeypot verwendet, um Mitglieder der linksradikalen militanten Untergrundorganisation ‚militante gruppe (mg)‘ zu identifizieren. Dabei wurden nach einem getarnten Lockbeitrag in der Publikation Interim IP-Adressen der Besucher gespeichert, um diese Adressen bestimmten Kreisen zuzuordnen. Das Unternehmen war insgesamt erfolglos.“
(https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Honeypot&oldid=232972183#Verfolgung_von_Straftaten)
Der Berliner Tagesspiegel berichtete 2007 über die honeypots; 2009 wurde zusätzlich bekannt, daß das BKA einen Fake-Beitrag an die Szene-Zeitschrift „interim. Wöchentliches Berlin-Info“ sandte, um mittels des Beitrages linksradikale BesucherInnen auf seine Fake-Webseite zu locken.
heise.de berichtete damals darüber:
„Nun wurde in einem Prozess bekannt, dass das BKA selbst Texte verfasste, mit denen mutmaßliche Mitglieder oder Sympathisanten der Gruppe auf die Homepage des BKA gelockt wurden: Durch ein Versehen der Behörden konnten die Anwälte einen Vermerk in einer Sachstands-Handakte des BKA lesen, der eigentlich gelöscht sein sollte:
‚Nur für die Handakte: Der Text wurde vom BKA verfasst und an die Interim versandt, um eine Reaktion bei der ›militante gruppe‹ (mg) zu provozieren und gleichzeitig auf die Homepage des BKA (Homepageüberwachung) hinzuweisen.‘
In der fraglichen Zeitschrift Interim wurde seinerzeit eine Militanzdebatte geführt. Dabei ging es unter anderem um die Frage, welche Form der Gewalt bei Anschlägen noch eine ‚revolutionäre Aussage‘ transportiert. Die schriftlich eingereichten Beiträge wurden in der Zeitschrift Interim veröffentlicht. Unter dem Tarnnamen ‚Die zwei aus der Muppetshow‘ beteiligte sich das BKA mit zwei Beiträgen an der Debatte.“
(https://www.heise.de/news/BKA-Honeypot-www-bka-de-209903.html)
Heute vormittag gegen 9:30 Uhr fragte ich die Pressestellen des Landgerichts und der Staatsanwaltschaft Karlsruhe mit Bitte um kurzfristige Antwort: „Können Sie nach dem bisherigen Stand Ihrer Ermittlungen und der Beweisaufnahme ausschließen, daß die Veröffentlichung des linksunten-Archivs ein staatlicher honeypot ist, um IP-Adressen von Linksradikalen zu sammeln?“
Die Staatsanwaltschaft antworte prompt um 9:43 Uhr: „Hier sind keinerlei Anhaltspunkte bekannt geworden, die die genannte Hypothese stützen könnten.“ – Eine bejahende Antwort auf die gestellte Frage ist das jedenfalls nicht – also kein Ausschluß der honeypot-Hypothese.
Die Pressestelle des Landgerichts hat bisher noch nicht geantwortet. –
Wie dem auch: Antwort der Staatsanwaltschaft und Nicht-Antwort des Gerichts dürften erst einmal nur zeigen, daß die genannten Hypothese – wegen vorgefaßter Meinung der Staatsanwaltschaft, wie es wohl gewesen ist – bisher nicht zielgerichtet untersucht wurde. Daraus eine Bestätigung der Hypothese zu lesen, wäre alle mal voreilig.
1 „Verein im Sinne dieses Gesetzes ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/vereinsg/__2.html)
2 „eine nichtexistente Vereinigung [kann] nicht unterstützt werden“ (OLG Stuttgart, Beschluß vom 12.06.2023 zum Aktenzeichen 2 Ws 2/23, Tz. 47).
3 Es kann sein, das ich die Daten schon vor dem 21. und 22.01.2020 herunter lud und den Speichervorgang an beiden genannten Tagen aus irgendeinem Grunde wiederholte.