6 ½ Jahre Verbot von Linksunten (Teil 1 von 2): Eine vorläufige Bilanz, die die juristischen Fallstricke hoffentlich erhellen kann
[Es folgt Teil 2: Rechtsforderungen unterhalb der „Systemgrenze“]
Der Artikel wurde von systemcrash (mit Unterstützung von Theorie als Praxis für die juristische Literatur) erstellt. Hinsichtlich der politischen Bewertung des Komplexes „linksunten.indymedia-Verbot / Radio Dreyeckland-Verfahren“ haben wir keine einheitliche Auffassung; siehe dazu auch unseren Schlagabtausch Neuer Autoritarismus oder leidlich funktionierende Gesetzesbindung der Justiz? (kontrapolis vom 30.04.2024 und scharf-links vom 01.05.2024).
Gliederung von Teil 1:
Mein Verhältnis zu linksunten
Die gescheiterte Klage der VerbotsadressatInnen gegen das linksunten-Verbot
Vereinsverbot mit medialem Kollateralschaden
Nachklatsch zum linksunten-Verbot: Zwei neue Strafverfahren
Anklage gegen einen Redakteur von Radio Dreyeckland
Neues Ermittlungsverfahren gegen vermeintliche Mitglieder des alten BetreiberInnenkreises
Linke Illusionen über die Reichweite der Pressefreiheit
Praktische Solidarität mit linksunten – Fehlanzeige
Über den Fall „linksunten“ hinaus: Rechtsforderungen und ‚Systemfrage‘
Anhang: Die totalitarismus-theoretische Staatsschutzkonzept des Grundgesetzes
Am 14. August 2017 wurde vom BMI das linksunten-Verbot ausgesprochen, wobei bis heute die Konfusion zwischen Webseite (auch wenn es auf linksunten keine Möglichkeit für Gegendarstellungen gab, ändert das nichts daran, dass es ein Medium, ein journalistisches „Produkt“ war1) und Betreiberkreis nicht vollständig in der Öffentlichkeit beseitigt ist. Für Nicht-Juristen sind die rechtlichen Feinheiten, die dieser Verbotsverfügung zugrundeliegen, kaum nachvollziehbar.
Da inzwischen der Prozeß gegen einen Journalisten von Radio Dreyeckland läuft, der 2022 das Archiv von linksunten verlinkt hatte (und dadurch einen verbotenen „Verein“) unterstützt haben soll,2 folgt hier ein Versuch die gerade angesprochenen Feinheiten für ein politisch interessiertes Publikum aufzudröseln.
Aus dem Unverständnis für jene Feinheiten erklären sich auch – zumindest teilweise – Fehler, die der Betreiberkreis und die Soli-Bewegung nach der Verbotsverfügung begangen haben. Es war schlicht und ergreifend eine Form der Hilflosigkeit (die man juristischen Laien allerdings nicht vorwerfen kann) in Kombination mit einem Überrumpelungseffekt, auf den niemand vorbereitet war.
Es gab zwar auch schon vorher Vereinsverbote von Mediumsherausgebern, aber diese hatten bei weitem nicht die mediale Aufmerksamkeit, die der Fall „linksunten“ hatte und hat.3 Erst durch den Fall „linksunten“ ist wieder4 deutlich geworden, ein welch scharfes Instrument für Repression das so harmlos klingende Wort „Vereinsrecht“ darstellt.
Mein Verhältnis zu linksunten
Aber fangen wir ganz von vorne an, sofern man in dieser Angelegenheit überhaupt einen Anfangs- und Endpunkt finden kann. Da ich einen „persönlichen“ Textzugang bevorzuge, fange ich einfach damit an: mit mir selbst (nicht aus Narzissmus, sondern um meine „Betroffenheit“ deutlich zu machen). Mein anfängliches Verhältnis zu linksunten kann mit einem Wort als „Nicht-Verhältnis“ beschrieben werden. Meine politische Sozialisation war eher „traditionell“ links geprägt (also ein eher starker Bezug zum „leninistischen“ Organisationsmodell und eine Orientierung auf die [tradionelle] „Klassenfrage“, sprich: „Arbeiterbewegung“), sodass für mich linksunten als Medium des eher (post)autonomen und „anarchistischen“ Spektrums gar nicht in mein Blickfeld fiel (mein Fokus lag eher auf andere linke Gruppen, hauptsächlich aus dem „trotzkistischen“ Spektrum). Da ich mit dgs5 zusammen Texte produzierte (wir hatten uns im NaO-Prozess6 kennengelernt) und er/sie auch schon vorher bei de.- und linkskunten.indymedia Texte publiziert hatte, posteten wir auch Texte bei linksunten, die wir zu aktuellen Anlässen gemeinsam schrieben, sofern die inhaltliche Übereinstimmung ausreichend war. Manche hatten durchaus auch eine gewisse Aufmerksamkeit erhalten, die wir jedenfalls in unseren kleinen, persönlichen Privat-Blogs nicht bekommen hätten. Im übrigen war linksunten auch deutlich politisch „pluraler“ (jedenfalls zu der Zeit, als wir dort publizierten), als ich es damals wahrgenommen hatte – wie ich im Nachhinein festgestellt habe. Das ist eben das Problem, wenn man mit Schablonen und Vorurteilen im Kopf herumläuft.
Als dann nach den Ereignissen um den G20-Gipfel in Hamburg das linksunten-Verbot vom BMI (Bundesministerium des Inneren) verfügt wurde, war es dann unmittelbar klar, dass wir uns mit linksunten solidarisch verhalten müssen. Über die juristischen Aspekte hatte ich mir damals keinen wirklichen Kopf gemacht und hatte davon auch nur bedingt Ahnung, aber dgs ist stark in der juristischen Literatur eingelesen und hat auch Erfahrungen in der Anti-Repressionsarbeit. Von daher habe ich mich darauf verlassen, das schon alles „gut“ gehen wird. Allerdings wies er/sie auch schon damals darauf hin, dass die Sache nicht ohne Risiko ist. Wir hatten einen Protestaufruf geschrieben (neben dgs und mir hat noch Peter Nowak unterschrieben) und da die Resonanz doch relativ überschaubar blieb, verlief die ganze Sache dann mehr oder weniger im Sande. Umso mehr war ich verwundert (sehr milde gesagt!) als wir ein gutes Jahr später Post vom Landeskriminalamt mit der Information bekamen, dass gegen uns ermittelt werde7. Dieses Ermittlungsverfahren führte zwar später zu einer Anklage. Da aber die Verjährungsfrist verstrich, bevor es zu einer gerichtlichen Entscheidung über die Zulassung der Anklage (geschweige denn zu einer gerichtlichen Hauptverhandlung) kam, braucht dieses Thema hier nicht weiter ausgeführt zu werden; aber ich gestehe, dass ich persönlich sehr erleichtert war, dass die Sache für mich ausgestanden war. Auch wenn damit politisch der ganze Vorgang natürlich noch nicht zu seinem Ende gelangt war.
Die gescheiterte Klage der VerbotsadressatInnen gegen das linksunten-Verbot
Während das Strafverfahren gegen uns noch lief, kam es Ende Januar 2020 vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig zur mündlichen Verhandlung über die Klagen, die diejenigen, denen die Verbotsverfügung 2017 zugestellt worden war, nach diesem Verbot gegen dieses – jeweils individuell – erhoben hatten. Die Klagen hatten aber keinen Erfolg, da nach (seit Jahrzehnten bestehender) Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts8 nur der jeweils verbotene Verein als Kollektiv einen Anspruch darauf hat, dass die Verbotsverfügung unter dem Gesichtspunkt des tatsächlichen Vorliegens der Verbotsgründe gerichtlich überprüft wird. Klagen dagegen (ähnlich wie im Falle linksunten9) nur Mitglieder, aber nicht der Verein, so prüft das Gericht nur, ob tatsächlich eine vereinsförmige (im weiten öffentlich-rechtlichen Sinne!10) Organisierung gegeben war. Diese Prüfung fand – mit bejahendem Ergebnis11 – auch im Falle linksunten statt, sodass nach Ansicht des BVerwG nur der Verein (als Kollektiv), aber nicht die einzelnen Mitglieder eine Überprüfung des Vorliegens der Verbotsgründe hätte erreichen können. (Wäre die Vereinsförmigkeit dagegen vom BVerwG verneint worden, so wäre das Verbot aufgehoben worden.12)
Die Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts kann zwar kritisiert werden, aber sie wurde von den AnwältInnen der KlägerInnen nicht kritisiert. Es hätte argumentiert werden können, dass durch ein rechtswidriges Vereinsverbot – anders als das BVerwG meint13 – nicht (oder jedenfalls: nicht nur) der Verein, sondern gerade die Mitglieder in ihrem individuellen Recht aus Artikel 9 Absatz 1 Grundgesetz („Alle Deutschen14 haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“), den Vereins zu bilden, verletzt werden – und folglich gerade die Mitglieder berechtigt sein müssen, ihre Einwände gegen das Vorliegen der Verbotsgründe vor Gericht geltend zu machen.15
Die AnwältInnen der KlägerInnen zogen es allerdings vor, auf anderen Schlachtfeldern zu fechten – aber leider nicht erfolgreich, sodass die Klage scheiterte.
Vereinsverbot mit medialem Kollateralschaden
Um noch mal auf den Anfang zurückzukommen – jedenfalls hat sich nicht nur die linke Szene überrumpeln lassen, sondern auch alle mainstream-Medien sprachen unisono davon, dass ein Medium verboten wurde. Bis heute hält diese Verwirrung in Bezug auf Medium und Verein (Betreiberkreis) an. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig – als erfreulichem Teilaspekt seiner ansonsten unerfreulichen (siehe vorstehend) Entscheidung – dieser Verwirrung dahingehend ein Ende gesetzt, dass es klar gemacht hat, dass der Regelungsgegenstand des Verbotes nicht das Medium ist, sondern der Herausgeberkreis:
„Regelungsgegenstand des Verbotsbescheids ist nicht das Verbot des unter der Internetadresse ‚linksunten.indymedia.org‘ betriebenen Veröffentlichungs- und Diskussionsportals, sondern das Verbot des dahinter stehenden Personenzusammenschlusses ‚linksunten.indymedia‘ als Organisation“
(https://www.bverwg.de/290120U6A1.19.0, Textziffer 33).
Aber diese Entscheidung erfolgte erst 2020, und so richtig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit ist das auch noch nicht gedrungen. So hieß es zum Beispiel im vergangenen Sommer
in einem Artikel auf der Webseite des SWR vom 29.08.2023:
„Ihm [Einem Redakteur von Radio Dreyeckland] wird vorgeworfen, in einem Artikel vom Juli 2022 auf die Archivseiten der verbotenen Internetplattform ‚Linksunten.indymedia‘ verlinkt zu haben.“
(https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/suedbaden/hausdurchsuchungen-bei-radio-dreyeckland-waren-rechtswidrig-100.html; Hv. hinzugefügt)
und
sogar die Legal Tribune Online schrieb am 28.08.2023:
„Weil Radio Dreyeckland einen Link zu der verbotenen Plattform linksunten.indymedia setzte, durchsuchte die Staatsanwaltschaft Redaktionsräume und Privatwohnungen.“
(https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/lg-karlsruhe-5qs123-sofortige-beschwerde-pressefreiheit-gff-radio-dreyeckland-durchsuchungen; Hv. hinzugefügt)
Zwar hieß es auch in der Verbotsverfügung des BMI allgemein oder vage, „Es ist verboten“
„die unter der URL https://linksunten.indymedia.org sowie die im Tor-Netzwerk unter der Adresse http://fhcnogcfx4zcq2e7.onion abrufbare Internetseite des Vereins, einschließlich deren Bereitstellung und Hosting, zu betreiben und weiter zu verwenden.“
(https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2017/verbotsverfuegung-linksunten.pdf; Hv. hinzugefügt)
Aber dies muss im Kontext der Formulierung „Internetseite des Vereins“16 (Hv. hinzugefügt) und der Adressierung des Verbots an den „Verein“ (BetreiberInnenkreis) verstanden werden; die Formulierung ist einfach ein Aspekt davon, dass sich verbotene Vereine überhaupt nicht mehr betätigen dürfen17 – auch nicht in Form des Betreibens einer Webseite:
„Vom Verbot ist infolge der umfassenden organisatorischen Auflösung des Vereins auch die Abschaltung seiner Internetpräsenzen und der von ihm geschaffenen Informations- und Kommunikationsstrukturen erfasst. Das in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids enthaltene Verbot der Nutzung der Internetadressen des Vereins wiederholt lediglich die Gesetzeslage (vgl. zum Betätigungsverbot BVerwG, Urteil vom 4. November 2016 – 1 A 6.15 [ECLI:DE:BVerwG:2016:041116U1A6.15.0] – Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 72 Rn. 3718).“
(https://www.bverwg.de/290120U6A1.19.0, Textziffer 28; Hv. hinzugefügt)
Das heißt: Der in Rede stehende allgemeine Satz in der Verbotsverfügung gilt für den Betreiberkreis und nicht für die allgemeine Öffentlichkeit! Theoretisch wäre es also möglich, linksunten mit einem neuem Betreiberkreis wiederaufleben zu lassen (wenn auch sicher nicht ohne juristisches Risiko19). Diese Möglichkeit wurde aber bislang nicht genutzt. Ob wegen dieses Risikos oder wegen einer gewissen Zögerlichkeit der linken „Szene“ dürfte schwer zu entscheiden sein. Ein gewisser Einschüchterungseffekt ist jedenfalls durch die BMI-Verbotsverfügung offenkundig geworden, der sich allein schon durch die hingenommene – unzutreffende – Medienberichterstattung zeigte. Ein Mangel an Selbstbewusstsein ist sicherlich diagnostizierbar (was nicht untypisch ist für marginalisierte Gruppen), dessen Verbesserung sicherlich mit auf die to do-Liste einer (hoffentlich) wiedererstarkenden linken „Szene“ gehört.
Nachklatsch zum linksunten-Verbot:
Zwei neue Strafverfahren
Nachdem die Soli-Kampagne für linksunten dann mehr oder weniger in der Versenkung verschwunden ist, kam etwas dazwischen, womit man zwar rechnen konnte20, aber zumindest rechtspolitisch eigentlich nur Kopfschütteln verursachen kann21. Jedenfalls bei mir ist das so. Zwar würde ich von mir behaupten, nicht unbedingt sehr rechtsgläubig zu sein, aber wenn es um so fundamentale Dinge geht wie Presse- und Meinungsfreiheit geht, dann funktionieren die Kontrollmechanismen der liberalen Öffentlichkeit in der Regel recht zuverlässig.
Anklage gegen einen Redakteur von Radio Dreyeckland
Was war passiert? Ein kleiner freier Sender in Süddeutschland (Radio Dreyeckland) hatte auf seiner Webseite über das Verfahren gegen die angeblichen früheren Betreiber von linksunten berichtet und dass dieses eingestellt wurde. In diesem Artikel wurde auch das Archiv von linksunten verlinkt. Dieses Archiv ist seit 2020 online.
Der Autor dieses kleinen Artikels, Fabian Kienert, steht nun tatsächlich vor Gericht. Es geht um die Anschuldigung, dass er mit diesem Bericht und der Verlinkung auf das Archiv einen verbotenen Verein unterstützt habe.
Neues Ermittlungsverfahren gegen vermeintliche Mitglieder des alten BetreiberInnenkreises
Zwischenzeitlich kam noch etwas anderes dazu: Bei fünf mutmaßlichen BetreiberInnen von linksunten (= diejenigen, denen 2017 die Verbotsverfügung zugestellt wurde, und die gegen diese erfolglos Klage beim Bundesverwaltungsgericht erhoben und anschließend – ebenso erfolglos – Verfassungsbeschwerde eingelegt hatten) wurden im August erneut Hausdurchsuchungen durchgeführt. Dabei wurden Speichermedien beschlagnahmt. Vermutlich hofft die Staatsanwaltschaft, Beweise dafür zu finden, dass auch das Archiv vom ehemaligen Betreiberkreis hochgeladen worden ist. Dann könnte es für Kienert tatsächlich eng werden. Denn die Frage, wer das Archiv hochgeladen hat, ist für das Verfahren gegen Kienert deshalb wichtig, weil nur weiterhin existierende Vereine unterstützt werden können. Deshalb ist für das Verfahren gegen Kienert die Frage relevant, ob der alte BetreiberInnenkreis Anfang 2020 das Archiv hochgeladen hat und auch im Sommer 2022 – bei Veröffentlichung von Kienerts Artikel – noch existierte. (Außerdem würden sich auch die Mitglieder fortbestehender Vereine strafbar machen.) – Bisher scheint die Staatsanwaltschaft auf den beschlagnahmten Datenträgern aber nichts gefunden zu haben oder zumindest nicht zu wissen, ob sie etwas gefunden hat, da sie anscheinend bisher nicht in der Lage ist, die Verschlüsselung der Datenträger zu knacken22: „Die Auswertung (auch der leeren und ungenutzten!) digitalen Geräte, die bei den Beschuldigten im Rahmen einer neuerlichen Durchsuchung im August 2023 beschlagnahmt worden waren, dauere noch an. Es gebe noch gar keine Erkenntnisse.“ (https://rdlsoli.noblogs.org/post/2024/04/28/prozessbericht-tag-3/; vgl. auch den ausführlichen Bericht von dgs über ersten fünf Prozesstage gegen Fabian Kienert von Radio Dreyeckland: https://blogs.taz.de/theorie-praxis/schiesst-sich-jetzt-die-karlsruher-staatsanwaltschaft-in-ihrer-verzweiflung-ins-eigene-knie/).
Linke Illusionen über die Reichweite der Pressefreiheit
Immer wieder wird auch die Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit als Argumente gegen das linksunten-Verbot (und auch gegen das Strafverfahren wegen des Artikels auf der Webseite von Radio Dreyeckland, wo das Argument zutreffend ist23) angeführt. So hieß es auch im Sommer des vergangenen Jahres noch in der ver.di-Zeitung menschen machen medien vom 21. August 2023, in metaphorischer Anwendung der Computersprache: Die Möglichkeit, auch solche Vereine zu verbieten, die (nur) Medien herausgeben, stelle eine „Sicherheitslücke“ im „System ‚Pressefreiheit‘“ dar:
„Das System ist die Pressefreiheit. Die Sicherheitslücke ist die Möglichkeit, die besonderen Schutzmaßnahmen für diese Freiheit über das Vereinsrecht zu umgehen. Formal richtete sich das Verbot nicht gegen das Medium, sondern gegen das lose organisierte Kollektiv hinter Linksunten, das das Innenministerium als Verein definierte und illegalisierte: ‚Der Verein ,linksunten.indymedia’ läuft nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider und richtet sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung. Der Verein ,linksunten.indymedia’ ist verboten und wird aufgelöst.‘ So hieß es in der Verfügung des Innenministeriums, die sich auf Artikel 9 Absatz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 3 des Vereinsgesetzes berief.“
(https://mmm.verdi.de/meinung/wenn-vereinsrecht-presserecht-aushebelt-91011)
Daran ist der Hinweis auf die Weite des Vereinsbegriff zutreffend (endlich einmal ein Artikel zu dem linksunten-Verbot, der diese Weite und ihre Gefährlichkeit erkennt und erwähnt!). Aber die Kennzeichnung des Umstandes, dass „sich das Verbot nicht gegen das Medium“ richte, als „[f]ormal“ (mitgedacht ist vermutlich ein „nur“24), ist durchaus problematisch:
Zum einen, da die Form wesentlich ist, wie Lenin25 sagt. Der Artikel konterkariert mit seinem Gebrauch von „formal“ seine eigene Warnung vor der Weite des Vereinsbegriffs; dieser Vereinsbegriff ist eben nicht ‚nur‘ „formal“, sondern sehr real.
Zum anderen, weil sich bisher keine Leute fanden, die bereit sind, auszuprobieren, was der Staat macht, wenn sich nun ein neuer BetreiberInnenkreis zusammenfindet, der die internet-Zeitung wieder (mit neuen Artikel) herausgibt.
Praktische Solidarität mit linksunten – Fehlanzeige
Mit letzterem sind wir wieder bei einem Problem, auf das Peter Nowak, Detlef Georgia Schulze und ich bereits mit unserer Protesterklärung gegen das Verbot gestoßen waren: Wir hatten etwas viel ‚harmloseres‘ vorschlagen, als die Internet-Zeitung linksunten.indymedia nun durch neue Leute herauszugeben. Wir hatten dort vielmehr geschrieben:
„Wir haben weder das technische Wissen noch die technische Infrastruktur, um unsererseits einen Ersatz für linksunten schaffen zu können; und wir hoffen, daß linksunten seine Daten und Strukturen so gesichert hat, daß linksunten bald wieder erscheinen kann. Bis dahin werden wir unsere bisher bei linksunten veröffentlichten Texte in dem von uns eingerichteten Blog: [… https://web.archive.org/web/20190725122406/http://systemcrashundtatbeilinksunten.blogsport.eu/ ...] wieder zugänglich machen. Wir fordern alle anderen, die ebenfalls unter ihren Klarnamen oder mit nicht-konspirativen Pseudonymen bei linksunten.indymedia publiziert haben, auf, es uns gleichzutun. Wir sind bereit, dafür den von uns geschaffenen Blog für weitere AutorInnen zu öffnen oder uns an einem neuen gemeinsamen Projekt zu beteiligen.“
Wie oben schon gesagt, war die Resonanz darauf doch eher bescheiden; Peter Nowak sagte dazu vor einem guten Jahr:
„Wir hatten ja auch primär die Nutzer*innen und Leser*innen aufgerufen, sich mit dem verbotenen Medium (linksunten) zu solidarisieren und damit auszudrücken: ‚Wir wollen Indymedia-Linksunten als links-pluralistisches Medium erhalten‘. […]. Ich denke, unser Ansatz war richtig und entsprach auch dem, was Indymedia bzw. Indymedia-Linksunten ausdrückte. Es war ein Medium von linken Initiativen. Und unser Versuch zeigte auch, dass es eben diese solidarischen Nutzer*innen scheinbar nicht mehr gibt. Damit war das Konzept politisch eigentlich schon gestorben, unabhängig von den Entscheidungen der Justiz. Daher gibt es jetzt auch keinen Versuch eines Neustarts mehr, das ist ja, wie dg auch schon erklärte, eine politische und keine juristische Frage.“
Über den Fall „linksunten“ hinaus: Rechtsforderungen und ‚Systemfrage‘
Bislang hat sich die Solibewegung zu sehr darauf verlassen, dass innerhalb der bestehenden Rechtsordnung auch ein Platz für linksunten sein muss, aber was ist, wenn es diesen Platz – wegen der Weite des politische Strafrechts der BRD26 und der Staatsschutzkonzeption des Grundgesetzes, das ausdrücklich erlaubt, nicht nur gegen die Verwirklichung von Straftatbeständen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch gegen unerwünschte politische Tendenzen vorzugehen (s. Anhang) – nicht gibt? Sich auf die Meinungs- und Pressefreiheit zu berufen, ist zwar sicher aller Ehren wert27, aber der Staat hat mit dem Vereinsrecht ein überraschend scharfes Skalpell gefunden, um linksunten den Garaus zu machen.
Und bislang ist der Staat mit seiner Strategie auch erfolgreich gewesen. Und es sieht es auch nicht danach aus, dass linksunten einen anderen Betreiberkreis als Nachfolger finden wird. Diese Runde ging eindeutig an den Staat und die Linke kann nur versuchen, daraus die richtigen Lehren zu ziehen.
Rechtsforderungen können wichtig sein, um das taktische Terrain auszuweiten und/oder zu ermitteln. Aber die „Systemfrage“ kann auf der Ebene des Rechtsdiskurses nicht gestellt werden, da sie im Rechtsdiskurs gar nicht vorkommt28. Und sie kommt nicht deswegen nicht vor, weil sie bewusst ignoriert werden würde, sondern sie kommt deswegen nicht vor, weil es eine systemisch notwendige Kopplung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und bürgerlichem Rechtssystem gibt. Und diese „Kopplung“ kann nur von einem „externen“ Standpunkt angegangen werden (also, man muss sich gedanklich außerhalb (und über das System hinaus) des bestehenden Gesellschaftssystems stellen).
Innerhalb des Systems (der Systemzwänge) gilt weiterhin, dass die Macht der Institutionen und der Diskurse immer größer29 ist als der politischer Wille von „Minderheiten“, welcher Art diese auch sein mögen. Und zu diesen Minderheiten gehört auch das „linke“ und „linksradikale“ Spektrum in Deutschland, das zwar einerseits mit vielen historisch bedingten Schwierigkeiten zu kämpfen hat; aber andererseits sind auch (zu) viele Fehler hausgemacht (siehe dazu: https://de.indymedia.org/node/269538).
Anhang:
Die totalitarismus-theoretische30 Staatsschutzkonzept des Grundgesetzes
Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz: „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_9.html)
Artikel 18 Grundgesetz: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_18.html)
Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_21.html)
Während es zu Vereinsverboten durchaus häufig kommt, wurden bisher ‚nur‘ zwei Parteien für verfassungswidrig erklärt (in ‚schöner‘ NS-verharmlosender, totalitarismus-theoretischer Ausgewogenheit die neonazistische Sozialistische Reichspartei sowie die [stalinistische] KPD) und Grundrechtsverwirkungen noch gar nicht vom Bundesverfassungsgesetz ausgesprochen – was aber nach herrschender juristischer Auffassung trotzdem nicht hindern soll, Leute wegen politischer Meinungsäußerungen zu bestrafen.
1 Auch wenn Medien verpflichtet sind, Gegendarstellungen zu veröffentlichen (siehe z.B. § 11 Pressegesetz BaWü) und dieses Recht, Nazis und einigen anderen auf linksunten.indymedia.org verweigert wurde, so läßt die Verletzung der Veröffentlichungspflicht nicht den Mediums-Status des jeweiligen Mediums entfallen.
2 Siehe dazu die Presseschau bei de.indymedia vom 28.09.2024: Hype um Hyperlink.
3 https://de.indymedia.org/sites/default/files/2023/03/Schill_interviewt_Schulze_T_I-1_-_T_I-3.pdf, S. 8 f. (Auflistung mehrerer Fälle mit Quellenangaben). Das – dort als Quellenangabe vergessene – Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.03.1971 zum Verlag Hohe Worte zum Aktenzeichen I C 54.66: https://research.wolterskluwer-online.de/document/787ef32e-74dd-484e-ba9c-f886697e5896; siehe Textziffer 41.
4 Allein schon bis 1959 wurden – zumeist auf der Ebene einiger oder aller Bundesländer oder Regierungsbezirke (der größeren Bundesländer) – 18 KPD-nahen Vereinigungen verboten (die teilweise kuriosen Namen erklären sich aus der damaligen gesamtdeutsch-neutralistischen politischen Orientierung der KPD) und deutlich mehr 1.500 Personen wegen kriminalisierter Vereinsmitgliedschaften verurteilt (Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1978, 272 f. [Tabelle 7]). Insgesamt ist von ca. 125.000 Ermittlungsverfahren und 6.000 bis 7.000 Verurteilungen im Rahmen der strafrechtlichen KommunistInnen-Verfolgung in der BRD in den gut 15 Jahren zwischen 1951 und 1968 auszugehen (ebd., 278).
Liste der verbotenen Vereinigungen: https://web.archive.org/web/20190531072146/http://systemcrashundtatbeilinksunten.blogsport.eu/juristisches-zum-linksunten-verbot/aktuelles/statistisches-zu-vereinsverboten-oder-de-maiziere-und-die-unwahrheit (Abschnitt 3.).
5 Detlef Georgia Schulze war in jungen Jahren bei den Deutschen JungdemokratInnen (die damals noch die Jugendorganisation der FDP waren) und etwas später bei der Alternative Liste Westberlin (einem damaligen quasi-Landesverband der Grünen) organisiert und wurde in ersteren auf dem sog. StamoKap-Flugel para-marxistisch politisch sozialisiert (StamoKap = Staatsmonopolkapitalismus-Theorie; vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Staatsmonopolistischer_Kapitalismus&oldid=235299182). Ab Anfang der 90er Jahre war dgs, der/sie Mitte der 90er Jahre außerdem ein transgender coming out hatte, mit kommunistischem Selbstverständnis am Rande der autonomen und antiimperialistischen Szene aktiv.
6 Der NaO-Prozess (ca. 2011 bis 2013) war ein Versuch, verschiedene linke Strömungen in einen Diskussionszusammenhang zu bringen, der dann zur Gründung einer „antikapitalistischen Organisation“ führen sollte. Obwohl dieser Prozess durchaus ein paar fruchtbare Ansätze hervorgebracht hatte, waren die programmatischen Differenzen letztlich zu groß, um zu einer gemeinsamen Organisationsperspektive zu gelangen. Dennoch war es – am Ende des gemeinsamen Diskussionsprozesses – für kurze Zeit zur Bildung einer „NAO Berlin“ durch einen Teil der Beteiligten (und ohne unsere Beteiligung) gekommen.
Siehe dazu:
http://de.indymedia.org/2012/08/333851.shtml vom 19.08.2012
https://de.indymedia.org/node/10922 vom 21.10.2016
https://linksunten.indymedia.org/node/195542/index.html vom 01.11.2016.
(Texte auf den nicht mehr existierenden Webseiten des NaO-Prozesses können teilweise mittels
https://archive.org/
wiedergefunden werden.)
7 Siehe dazu unsere Stellungnahme: https://web.archive.org/web/20181001033135/http://systemcrashundtatbeilinksunten.blogsport.eu/2018/09/25/unsere-stellungnahme-zu-post-vom-landeskriminalamt-berlin/.
8 „Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist eine Anfechtungsklage vorbehaltlich einer hier nicht gegebenen anderweitigen gesetzlichen Regelung nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Hieran fehlt es hier, weil der mit der vorliegenden Klage erhobene Rechtsanspruch auf Aufhebung des angegriffenen Vereinsverbots nicht dem Kläger, sondern nur der verbotenen Vereinigung selbst zustehen kann.“ (Urteil vom 13.08.1984 zum Aktenzeichen 1 A 26.83, Textziffer 6)
Später entschied das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), dass einzelne Mitglieder von verbotenen Personenzusammenschlüssen immerhin geltend machen können, der verbotene Personenzusammenschluss sei nicht vereinsförmig organisiert gewesen. Diese Prüfung fand auch im Fall „linksunten“ statt, wobei das BVerwG die Vereinsförmigkeit (s. sogleich FN 10) aber als gegeben ansah.
9 Im Fall linksunten ließen die KlägerInnen sogar in der Schwebe, ob sie überhaupt zu dem alten BetreiberInnenkreis gehörten.
10 § 2 Absatz 1 Vereinsgesetz: „Verein im Sinne dieses Gesetzes ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/vereinsg/__2.html; Hv. hinzugefügt)
11 „Die verbotene Vereinigung „linksunten.indymedia“ war im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids ein Verein im Sinne des § 2 Abs. 1 VereinsG.“ (https://www.bverwg.de/290120U6A1.19.0, Textziffer 37 [wird bei den anschließend dortigen Textziffern genauer begründet])
12 „Trifft dieser Einwand [dass, keine Vereinsförmigkeit gegeben sei] zu, ist die Verfügung aufzuheben“ (https://www.bverwg.de/290120U6A1.19.0, Textziffer 16)
13 „Die Verbotsverfügung betrifft nicht die individuelle Rechtsstellung natürlicher Personen, sondern die Rechtsstellung der verbotenen Vereinigung als einer Gesamtheit von Personen.“ (https://www.bverwg.de/290120U6A1.19.0, Textziffer 15)
14 „alle Deutschen“ = einige Dutzend Millionen Individuen.
15 Siehe dazu https://de.indymedia.org/sites/default/files/2020/01/Leipziger_Landdogma_0.pdf und https://de.indymedia.org/sites/default/files/2023/04/Schill_interviewt_Schulze_Teil_II.pdf, S. 43 - 47.
16 Wenn es sich dagegen nicht mehr um die internet-Seite des „Vereins“ (d.h.: des alten BetreiberInnenkreises) handelt, so ist für den Betrieb von Webseiten unter der Adresse linksunten.indymedia.org auch das Verbot des alten BetreiberInnenkreises nicht mehr relevant.
17 So das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich in einer anderen Entscheidung zu einem Vereinsverbots, auf die das BVerwG in seinem linksunten-Urteil hinweist: „Das gleichzeitig gegen den Kläger ausgesprochene Betätigungsverbot (Ziffer 3) ergibt sich aus der Natur des Verbots der Teilorganisationen und der Auflösungsanordnung, ohne dass es einer eigenen Rechtsgrundlage bedarf.“ (https://www.bverwg.de/041116U1A6.15.0, Textziffer 37)
18 Siehe vorstehende Fußnote 17.
19 Siehe dazu im Artikel Ein neues linksunten? (Pro und Contra) (in: de.indymedia.org vom 20.06.2020) von dgs und mir unter anderem folgenden Absatz:
„Ein neuer HerausgeberInnen-Kreis stünde selbstverständlich unter dem Damoklesschwert als ‚Ersatzorganisation‘ [*] des alten HerausgeberInnen-Kreises eingestuft zu werden. – Aber bis eine neue innenministerielle ‚Verfügung‘ ergeht, die ‚feststellt‘ (das heißt: behauptet), daß es sich um eine Ersatzorganisation handelt, wären die Repressionsrisiken nicht größer als auch ansonsten bei linker publizistischer Arbeit.“
sowie den Anhang: https://de.indymedia.org/sites/default/files/2020/06/Ersatzorganisation_mit_Vorbem.pdf („Der folgende Artikel versucht auszuloten, welche legalen Handlungsspielräume – das heißt: auf der Grundlage der bestehenden Gesetzeslage – für eine Wiederherausgabe von linksunten.indymedia – auch mit neuen Artikeln – aktuell bestehen.“).
20 Rechnen konnte man insofern damit, dass innerhalb der linken Szene weiterhin auf den Fall linksunten Bezug genommen wird. Dass dann auch Verstöße gegen das Vereinsrecht möglich sind, kann (bei dieser komplizierten Rechtslage) nicht verwundern. Verwundern kann vielmehr, warum noch soviel Energie in die Strafverfolgung investiert wird, wenn auf der Webseite seit 2017 gar keine neuen Artikel mehr erscheinen (vgl. FN 21).
21 Man muss sich schon fragen, was für massive Energien dahinter stecken, jemanden verknacken zu wollen wegen eines Links zu einem Archiv einer online-Zeitung, die seit 2017 gar nicht mehr existiert – zumal der Staatsanwalt auch selbst noch bei Anklageerhebung davon ausging, auch der verbotene alte HerausgeberInnenkreis existiere nicht mehr. Ist das schon die AfD-isierung der Innenpolitik oder ist das eine individuelle Eskapade eines einzelnen Staatsanwaltes? Und solange der Fall Radio Dreyeckland noch eine gewisse mediale Aufmerksamkeit hat, was allein schon durch seine demokratiepolitische Brisanz gewährleistet scheint, sollten auch weitergehende „strategische“ Fragen (also hier: die Frage nach einer gesellschaftlichen und politischen Entwicklung ‚nach rechts‘) in der linken Öffentlichkeit ihren Platz haben und/oder finden.
Vgl. dazu auch die Fragen des Moderators in einem der FSK-Interviews mit dgs: https://www.freie-radios.net/122165 (ab Min. 15:09 und ab Min. 19:50):
„Deutet sich so etwas wie eine institutionelle Auseinandersetzung an oder gibt es Strategieüberlegungen?“
und
„Gibt es einen Kampf innerhalb der Institutionen – einen Linienkampf sozusagen?“
dgs antwortete darauf eher abwiegelnd oder abgeklärt.
22 „Die Experten des Landeskriminalamtes Stuttgart gaben nun das vermeintliche Beweismittel [einen Anfang August beschlagnahmten Computer] unverrichteter Dinge an den Eigentümer zurück, da sie an die dort etwaig gespeicherten Daten nicht herankamen“ (https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/lka-ermittlungen-linksunten-indymedia-archiv-100.html).
23 Dort wird ja tatsächlich ein (bestimmter) Bericht, dessen implizite politische Tendenz Staatsanwalt Graulich und dem Oberlandesgericht Stuttgart nicht gefallen, kriminalisiert, aber nicht die Radio Dreyeckland gBetriebs-GmbH als organisatorische Struktur (wirtschaftlicher Verein im Sinne des § 17 Vereinsgesetz) angegriffen.
24 im Sinne von: ‚nur formal im Gegensatz zum Tatsächlichen‘.
25 „Die Form ist wesentlich.“ (Konspekt zu Hegel „Wissenschaft der Logik“, in: ders., Werke. Band 38, Dietz: Berlin/DDR, 1964, 77 - 229 [134])
26 Siehe unter anderem den StGB-„Titel“ „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates“ (§§ 84 - 91a StGB).
27 Auch sich auf die Aufgaben der Presse zu berufen und anzuführen, dass der Artikel von Kienert einem informations- und zeitgeschichtlichem Interesse entspricht, ist grundsätzlich ein sinnvoller Ansatz. Aber es ist unberechenbar, wie die Gerichte im jeweiligen Einzelfall entscheiden werden.
So hieß es zum Beispiel in dem Nicht-Eröffnungs-Beschluss des Landgerichts Karlsruhe im Verfahren gegen Fabian Kienert unter Berufung auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshof: „Vor der strafrechtlichen Ahndung ist mithin sorgfältig zu prüfen, ob nicht auch eine andere Auslegung [der jeweils verfahrensgegenständlichen Äußerung] in Betracht kommt, bei der die fragliche Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt und nicht strafbar ist (BGH NJW 2003, 2621, 2623).“ Das hört sich schön an, und die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe war in der Tat (jedenfalls im Ergebnis) gut und richtig.
Aber in dem Fall, der der vom Landgericht angeführten BGH-Entscheidung zugrunde lag, nützten der dortigen Angeklagten die schönen Worte nichts; der BGH hob ihre Verurteilung durch die Vorinstanz trotzdem nicht auf (https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=26198&anz=1&pos=0&Frame=4&.pdf, S. 3 oben). Linke sollten also der schönen Lyrik deutscher Gericht nicht blind vertrauen, sondern immer konkret analysieren, was entschieden wurde und wie es begründet würde. Denn in der BRD ist nach herrschender Ansicht nicht nur im Interesse des Jugendschutzes und der persönlichen Ehre, sondern auch in politischer Hinsicht die Meinungsäußerungsfreiheit nicht grenzenlos.
28 „Man wird in unserem ganzen Rechtssystem keine gesetzliche Formel der gegenwärtigen Klassenherrschaft finden. Wie also die Lohnsklaverei ‚auf gesetzlichen Wege’ stufenweise aufheben, wenn sie in den Gesetzen gar nicht ausgedrückt ist?“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: dies., Gesammelte Werke. Bd. I/1, Dietz: Berlin/DDR, 1970, 367 - 466 [429])
29 „Die diskursiven Formationen eröffnen die ‚Denkfelder’, in denen das Subjekt historisch und gesellschaftlich durch das, was ihm zu sehen, zu verstehen, zu tun etc. gegeben wird, konstituiert wird“ (Karl-Heinz Ladeur, Rechtssubjekt und Rechtsstruktur. Versuch über die Funktionsweise der Rechtssubjektivität, Focus: Gießen, 1978, 13).
Vgl. auch das Zitat, „Die Institutionen sind mächtiger als die einzelnen Menschen“, das Johannes Agnoli Karl Marx zuschrieb; siehe: Johannes Agnoli, Zwanzig Jahre danach. Kommemorativabhandlung zur „Transformation der Demokratie“, in: Prokla H. 72, März 1986, 7 - 40 (7).
30 Siehe dazu den „Anhang zur totalitarismus-theoretischen Konnotation des Adjektiv ‚freiheitlich‘ in ‚freiheitlich demokratische Grundordnung‘“ zu meinem Artikel in: EmRaWi. emanzipatorisch – radikal – widerständig vom 20.05.2023.