Der folgende Text erschien ursprünglich als Anhang zum Artikel Staatsanwaltschaft Karlsruhe klagt Redakteur von Radio Dreyeckland (RDL) an – Presseschau vom 10.05.2023.
Artikel 5 Absatz 1 und 2 Grundgesetz lauten:
„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“
In seiner berühmten – aber wegen seiner Inkonsequenz zu kritisierenden – Lüth-Entscheidung schrieb das Bundesverfassungsgericht zustimmend:
„Der Begriff des ‚allgemeinen‘ Gesetzes […] ist […] bereits während der Geltungsdauer dieser [der Weimarer] Verfassung dahin ausgelegt worden, daß darunter alle Gesetze zu verstehen sind, die ‚nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten‘, […]. Dem stimmen auch die Ausleger des Grundgesetzes zu […]. Die – so verstandene – Meinungsäußerung ist als solche, d.h. in ihrer rein geistigen Wirkung, frei; […].“
(BVerfGE 7, 198 - 230 [209 f. = DFR-Tz. 30, 33]; Hv. hinzugefügt)
So weit, so richtig. Das Bundesverfassungsgericht fügt aber (an der Stelle der dritten und fünften Auslassung in vorstehendem Zitat) noch vage hinzu, daß „allgemeine Gesetze“ solche sein sollen
„die vielmehr ‚dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen‘, dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat“. / „wenn aber durch sie [die Meinungsäußerung] ein gesetzlich geschütztes Rechtsgut eines anderen beeinträchtigt wird, dessen Schutz gegenüber der Meinungsfreiheit den Vorrang verdient, so wird dieser Eingriff nicht dadurch erlaubt, daß er mittels einer Meinungsäußerung begangen wird.“
(ebd).
Damit verschwimmt der Unterschied zwischen „allgemeinen“ und ‚besonderen‘ Gesetzen i.S.v. Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz und auch der Unterschied zwischen den drei verschiedenen1 Schranken („Vorschriften der allgemeinen Gesetze“ / „gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend“ / „Recht der persönlichen Ehre“) des Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz im Nebulösen. Der Begriff der „allgemeinen“ Gesetze wird so uferlos weit, was dann das BVerfG – in einem Anflug von schlechtem Gewissen – dadurch modifizieren versucht, daß es postuliert:
Die allgemeinen Gesetze müßten „ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muß, auf jeden Fall gewahrt bleibt. Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und ‚allgemeinem Gesetz‘ ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die ‚allgemeinen Gesetze‘ aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die ‚allgemeinen Gesetze‘ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.“
(ebd., 208, DFR-Tz. 28)
Allerdings gibt es – wie das BVerfG selbst andeutet – im Wortlaut des Grundgesetzes nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine solche „Wechselwirkung“; die Kur muß deshalb vielmehr an der Wurzel anfangen: Der Begriff der allgemeinen Gesetze ist eng statt weit auszulegen.
Zutreffend ist daher die folgende Auslegung:
Die „gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend“ und „Recht der persönlichen Ehre“ sind die einzigen Rechtsgüter, die auch gegenüber Meinungsäußerungen und Medienberichterstattung Vorrang haben; diese beiden Schranken erlauben gerade ‚nicht-allgemeine‘ Gesetze, die sich für diese beiden speziellen Bereiche (Jugendschutz; Schutz der persönlichen Ehre) auch gegen „die geistigen Wirkung“ richten dürfen.
Allgemeine Gesetze sind dagegen solche Gesetze, die ohnehin nicht durch geistige Wirkungen verletzt werden können. In diesem Sinne ist § 211 StGB (Mord) ein allgemeines Gesetz (er kriminalisiert keine geistigen Wirkungen, sondern materielle [in dem Fall: tödliche] Schädigung); er streicht an der Meinungsäußerungs- und Berichterstattungsfreiheit vorbei2.
Dagegen sind Gesetze, die es gerade erlauben, Meinungsäußerungen und Berichte zu bestrafen, keine allgemeinen Gesetze im Sinne von Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz, sondern Gesetze, die sich gegen die Meinungsäußerungs- bzw. Berichterstattungsfreiheit als solche richten. Denn in diesem Fall ist (anders als z.B. bei Mord) die geistige Wirkung betroffen.
„Eine Meinungsäußerung kann sehr gute Wirkungen haben, kann aber auch alle Rechtsgüter von Staat und Gesellschaft schwer schädigen. Solange diese Gefährdung nur geistiger Natur ist, indem sie durch ungünstige Beeinflussung der Mentalität der Leser, Hörer oder Beschauer das Vertrauen zu bisher anerkannten Wahrheiten, als feststehend und richtig angenommenen Erkenntnissen oder herrschenden Sittengesetzen irgendwelcher Art erschüttert und dadurch vielleicht geistig den Boden für eine Änderung der bestehenden Anschauungen über Recht und Sitte vorbereitet, soll sie mit Rücksicht auf die guten Wirkungen der freien Meinungsäußerung, ohne die kein menschlicher Fortschritt denkbar ist, in Kauf genommen werden. […] die Freiheit der Meinungsäußerung [hat] vor allen Rechtsgütern solange den Vorrang […], als der Angriff auf sie lediglich mit dem ideellen Mittel sachlicher Überzeugung geschieht, […] umgekehrt [hat aber] jedes Rechtsgut seinerseits vor der Freiheit der Meinungsäußerung Vorrang […], sobald die Meinungsäußerung sich nicht auf ideelle Wirkungen beschränkt, sondern gleichzeitig auch materiell Rechtsgüter verletzt oder unmittelbar gefährdet.“
(Kurt Häntzschel, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma [Hg.], Handbuch des Deutsches Staatsrechts. Zweiter Band, Mohr Tübingen, 1932, 651 - 675 [660, 661]; Hv. i.O.)
Ein Gesetz, das z.B. Brandanschläge unter Strafe stellt, ist ein allgemeines Gesetzes im Sinne des Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz. Denn es geht gegen materielle Schädigung vor.
Ein Gesetz, das z.B. allgemein das Hinweisen auf das Archiv von linksunten.indymedia oder speziell die politische Rechtfertigung von Brandanschlägen unter Strafe stellt, richtet sich dagegen gegen geistige Wirkungen (die ihrerseits materielle Folgen haben können – aber nicht müssen). Es ist daher kein „allgemeines“ Gesetze im Sinne von Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz, sondern – wenn wir so sagen wollen – ein ‚besonderes‘ Gesetz, das sich gerade gegen (zutreffende) Berichterstattung bzw. gegen eine (vielleicht richtige; vielleicht falsche) politische Meinung richtet.
Vgl. dazu:
„Bekanntlich hat es bis zum Lüth-Urteil des BVerfG eine Auseinandersetzung zwischen den formalen und materiellen Ansätzen zur Interpretation des Begriffs der ‚allgemeinen Gesetze‘ gegeben. […]. Das BVerfG hat seit dem Lüth-Urteil beide Theorieansätze auf eine nur scheinbar elegante Weise miteinander verbunden. [… Es] hat mit seiner vermittelnden Meinung die Bemühungen um die begrifflich dogmatische Konturierung der Schranken im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG praktisch aufgegeben und eine Wechselwirkungslehre entwickelt, die die Folgen der Auflösung der Begrifflichkeit durch eine von Fall zu Fall restriktiv verfahrende Interpretation der Schranken ziehenden Gesetze abpuffert.“3
Diese sog. Wechselwirkungstheorie kritisiert Helmut Ridder als „Schaukel-Konstruktion“, die zu den zusätzlichen Devisen gehört, welche den Einsatz der ‚verfassungsmäßigen Ordnung‘ zwecks Umbildung oder Verstümmelung von Grundrechten erleichtern“4 und die dazu führe, „daß die Meinungsfreiheit nunmehr potentiell ‚leerlaufen‘ kann“5.
1 Daß die „gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend“ und das „Recht der persönlichen Ehre“ in Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz neben den „allgemeinen Gesetze“ genannt sind, schließt aus, die „Bestimmungen zum Schutze der Jugend“ und „Recht der persönlichen Ehre“ unter den Begriff der allgemeinen Gesetze zu subsumieren.
2 Vgl. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Westdeutscher Verlag: Opladen, 1975, 78; wieder abgedruckt, in: ders., Gesammelte Schriften hrsg. v. Deiseroth/Derleder/Koch/Steinmeier, Nomos: Baden-Baden, 2010, 7 - 190 (95): „die ‚allgemeinen Gesetze [sind] am ‚Normbereich‘ des Grundrechts, d.h. an der in ihnen erst rechtlich aufgebauten, festgemachten und gesicherten Interessenstruktur (in Art. 5 GG dem ‚Interesse‘ am demokratischen Verlauf des politischen Prozesses), vorbeistreichende Gesetze“ (Hv. i.O.).
3 Ladeur, Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und die Veränderung der Öffentlichkeit in der Massendemokratie, in: Archiv für Presserecht 1993, 531 - 536 (531 mit Nachweis der klassischen Texte) – Hv. hinzugefügt; vgl. wiederum krit. zu dem Alternativvorschlag Ladeurs: Rühl, Die Semantik der Ehre im Rechtsdiskurs, in: Kritische Justiz 2002, 197 - 212 (212); https://www.kj.nomos.de/fileadmin/kj/doc/2002/20022Ruehl_S_197.pdf).
4 Ridder, a.a.O. (FN 16), 76 bzw. 93.
5 ebd., 79 bzw. 97.